Bonderenko über den Donbass

  Andrij Bondarenko über den Donbass 

Der Donbass ist für mich eine Steppdecke mit vielen verschiedenen Mustern, Gedanken und Assoziationen. Genau gesagt eine Decke, denn an diesem Ort in der Ukraine war ich noch nie. Deshalb versteckt sich der Donbass vor mir immer noch hinter so einer Tagesdecke, die aus ganz vielen Elementen gestrickt wurde. Aber was sich hinter ihnen befindet, ist unmöglich zu sagen. Ein Kaleidoskop, das sich ständig dreht. 

1998. Ich fahre mit dem Bus aus Kiew nach Poltawa. Ein Mann mit einem Minibus nimmt mich mit. Es stellt sich raus, dass er aus dem Donbass ist. Der Bus ist absolut leer. Nur er und ich. Er spricht auf Russisch, aber betont höflich. Er erzählt mir, dass seinen Landsmännern europäischen Erziehung fehlt. Er bringt mich näher zu meiner Unterkunft, als er sollte. Er drückt mir die Hände und wünscht mir einen schönen Aufenthalt. Ich schaue seinem Minibus lange mit überraschten Blick nach. Ein Kohlebergbauarbeiter ohne Helm? Wie kann das sein?

Das Jahr 2000. Sergeiy Zhadan. Betrunken lese ich seine Prosa über die unerzogene Jugend, die keine Manieren hat. Ich erkenne sie alle. Diese Typen, diese wilden existenziellen Gespräche in den Rissen des sozialen Seins. Ich kenne sie auch, ich habe sie in Lwiw gesehen. Das sind meine 90er in Lwiw. Ich beginne ich an meine damaligen Weggefährten zu erinnern. Damals sind wirklich alle diese Landstreicher-Studenten-Hippies-Obdachlosen nach Lwiw gefahren. Sie kommen alle von weit weg, irgendwoher aus dem Osten. Nach dem Geburtsort zu fragen war damals schlechter Ton. Aber im Nachhinein hilft einem Zhadan den einen oder anderen Bewohner des seltsamen menschlichen Kaleidoskop der Neunziger zu lokalisieren. Damals, als der Zug “Moskau - Petushki” durch den Donbass und bis nach Lwiw fuhr. Als alle die Unsrigen waren.

2016. Unter sehr seltsamen Umständen in einer Nachtkneipe im Zentrum von Lwiw treffe ich meinen besten Freund in meiner Kindheit. Er war ein Jahr älter als ich, er lehrte mich, wie man Schulstunden schwänzt, mit dem Schakko umgeht, wie man Fahrräder aus Hauseingängen und Antennen von Wohnhausdächern stiehlt. Wir haben Birnen in den Vorstadtgärten geklaut, wir rissen Dermantinen von den Bäumen (fragt nicht, warum), schmissen von Dächern Glasflaschen auf Radikale. 

Danach ging er zur Armee. Es kam ein anderer Mensch zurück. Er machte eine Andeutung, dass er nach Tschetschenien fährt und verschwand. Er konnte unglaubliche Geschichten über Zombies und Freddy Krüger erzählen, deshalb achtete ich nicht so besonders auf die Bemerkung “Tschetschenien”. Ich traf ihn hier wieder nach siebzehn Jahren. Er hatte sich verändert, hatte eine Pistole bei sich und eine russische Kugel aus Tschetschenien im Kopf. Die letzten Jahre war er im Donbass und seine Geschichten werde ich nicht erzählen. Ich kann es einfach nicht. Sie sind zu schrecklich, sie sind aus der Unterwelt.
2017 schaute ich den Film “School #3”. Ich habe diese Menschen nie kennengelernt, aber ich sehe auf der Leinwand, wie man von einem Hügel die Nachtlichter eines Donbassstädtchen sieht. Sie sind mir sehr bekannt. In keiner Szene sieht man Bergbauarbeiter mit Helmen. Ich sehe auf der Kinoleinwand Jugendliche, mit denen ich nie Wodka in den Neunzigern getrunken habe. Ich höre ihre Geschichten und fühle mit ihnen mit. Sie sind auch die Unsrigen. Sie sind aus der gleichen Welt, wie ich. Sie fürchten die Unterwelt genauso wie ich. Wie wir alle.

Ich weiß immer noch nicht, was der Donbass ist. Existiert der auch außerhalb meines Kopfes. 

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